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BdV in Europa

Wie geht es weiter im Vertrieb von Lebensversicherungen? Die Europäische Perspektive.

Wie geht es weiter im Vertrieb von Lebensversicherungen? Die Europäische Perspektive.

 08.11.2022  BdV in Europa  0 Kommentare  Christian Gülich

© EIOPA

Einer der Schwerpunkte des diesjährigen „Consumer Protection Day“ der drei Europäischen Finanzaufsichtsbehörden Ende September in Frankfurt am Main war „Social Inclusion“: Inflation, Entwicklung von Standardprodukten und Online-Vertrieb wurden in ihren Auswirkungen auf Verbraucherinnen und Verbraucher hinterfragt. Vorab war bereits ein umfassendes Papier mit Reformvorschlägen publiziert worden, welches hier vorgestellt wird.

Consumer Protection Day 2022

Konsens herrschte auf der Tagung, dass anhaltend steigende Lebenshaltungs­kosten sich negativ auf die Bereitschaft zur Risikovorsorge auswirken können. Der Zwang zum Sparen bei breiten Bevölkerungsschichten ist umso stärker zu spüren, da nach jahrelanger Niedrigpreis- und -zinsentwicklung der Anstieg der Inflation dieses Jahr im EU-Raum umso plötzlicher und heftiger ausfällt (im gesamten EU-Raum ca. 10% im September 2022, allerdings mit starken Unterschieden zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten von ca. 6% in Frankreich und knapp 10% in Deutschland bis über 20% in den baltischen Staaten).

Auch wenn noch von keiner Stornowelle berichtet wurde, so ist offensichtlich, dass beim „Blick aufs Wesentliche“ wahrscheinlich weniger Sach- und spezielle Personenversicherungen (wie Haftpflicht, Hausrat, Wohngebäude, Kfz, Reise, Krankheit), sondern insbesondere teure Lebens- und Rentenversicherungen „eingespart“ werden könnten. Damit Teile der Altersvorsorge nicht unter den Tisch fallen, wurde unter der Perspektive der „sozialen Inklusion“ um deutlicher die Notwendigkeit einer „standardisierten“ Mindestrisikoabdeckung betont. Während im Sachbereich die Unterscheidung etwa von „Basistarif“ und „Premiumtarifen“ schon weitgehend etabliert ist (ohne dass diese Unterscheidung eine weitgehende „Standardisierung“ der Angebote beinhaltet), ist das im Lebensversicherungs­bereich noch nicht gegeben. Vom EIOPA Executive Director Fausto Parente wurde deshalb die bisher nicht erfolgte praktische Umsetzung des Europäischen Rentenproduktes PEPP durch die Finanzindustrie kritisiert, welches einen Basistarif sowie nicht-versicherungsförmige Formen privater Altersvorsorge enthält.

Das ist umso bedauerlicher, als EIOPA bereits im Frühjahr umfassende Vorschläge für die Weiterentwicklung von Vertrieb, Informationspflichten und Produktentwicklung von Lebensversicherern veröffentlicht hatte. Diesem Bericht an die EU-Kommission war eine öffentliche Konsultation vorangegangen, an der sich auch der BdV (Stellungnahme vom 25.02.2022) beteiligt hatte.

Produktentwicklung

Was die Produktentwicklung anbetrifft, so wird die weiterhin zu hohe Komplexität der Lebensversicherungen kritisiert (vgl. Report, p. 21/22 und Chapter 5), die insbesondere Rendite- und Kostenvergleiche erschwert, wenn nicht verunmöglicht:

  • Nebeneinander von unterschiedlichen Mechanismen der Gewinn- bzw. Überschussbeteiligungen bei „hybriden“ Produkten, die in den letzten Jahren klassische Garantieprodukte zunehmend verdrängt haben;
  • Nebenaneinander von unterschiedlichsten Kostenbelastungen kommend aus Kapitalanlage, Vertrieb und Vertragsverwaltung;
  • unterschiedliches Verständnis von Produktkomplexität aus Unternehmens- und Verbrauchersicht (Komplexität reduziert sich für letztere nicht nur auf Kapitalmarktrisiken und Gewinnbeteiligungen des Sparanteils, sondern beinhaltet die Kombination aus Sparvorgang und Risikoabdeckung in einem Produkt);
  • sehr häufiges Einfügen von Warnhinweisen für schwer zu verstehende Produktkomponenten bzw. Produkte, so dass deren ursprüngliche gezielte Informationsabsicht verloren geht;
  • mögliche vertragliche Einschränkungen von Garantien und der Abdeckung biometrischer Risiken.

EIOPA kommt zu dem Schluss, dass es Beispiele gibt, in denen die Gesamtkosten mehr als 50% der Gesamtprämien verbrauchen, so dass eine Minimumrendite von 4 bis 5% über einen Zeitraum von 20 Jahren benötigt wird, um diese Renditeminderung auszugleichen. Desgleichen liegen bei einigen Produkten die einmaligen Vertriebskosten bei bis zu 8% der Gesamtprämien, so dass eine jährliche Minimumrendite von 4 bis 5% benötigt wird, um jene auszugleichen, was bei kürzeren Vertragsdauern für ältere Versicherungsnehmer gar nicht erreicht werden kann (vgl. Report, p. 100). Und so lautet die eindeutige Schlussfolgerung: „the considerable increase in complexity is resulting in an increased risk of mis-selling“ (Report, p. 99).

Als Gegenmaßnahme empfiehlt EIOPA der EU-Kommission, die Anforderungen an das „Produktfreigabeverfahren“ im Rahmen der Vertriebsrichtlinie IDD weiter „zu klären“: „Komplexität“ einer Lebensversicherung ausschließlich an Kapitalmarkt­risiken festzumachen, sei nicht ausreichend, so dass zukünftig die Bedürfnisse der Zielmärkte noch stärker bei der Produktentwicklung zu berücksichtigen seien. Damit solle unterstützt werden, dass bei der Risikoanalyse für den entsprechenden Zielmarkt auch das Risiko von „misunderstanding of the main features, costs and risks of the product“ (Report, p. 106) miteingeschlossen wird.

Vertrieb

Dieser eher indirekte Hebel auf die Produktentwicklung wird allerdings durch weitere empirische Befunde gestärkt: sowohl EIOPA als auch die deutsche BaFin haben auf hohe und z.T. intransparente Kostenbelastungen im Vertrieb gerade von Fondspolicen in den letzten Jahren mehrfach hingewiesen. Diese hohe Kostenbelastung hat eine doppelte Konsequenz: Zum einen wird der „angemessene Gegenwert fürs Geld“ („value for money“) über die gesamte Vertragslaufzeit aus Kundensicht entscheidend gemindert, zum anderen besteht weiterhin das Risiko einer „schiefgelagerten Produktempfehlung“ („product bias“) in der Beratung bzw. dem Produktverkauf (vgl. Report, p. 79).

Damit spricht EIOPA klar mögliche Interessenkonflikte im Vertrieb durch Fehlanreize mittels Vergütungen an, denn der Bericht stellt ausdrücklich fest, dass provisionsbasierte Vergütungen weiterhin das vorherrschende Vertriebsmodell in der Mehrheit der nationalen Versicherungsmärkte sind (vgl. Report, p. 79). Dennoch spricht sich der Bericht nicht für ein vollständiges Verbot von Provisionen im Vertrieb von Lebensversicherungen aus, sondern setzt auf die Einführung des Konzepts der „unabhängigen Beratung“ in IDD. Nach diesem Konzept muss die Beratung auf einer breiten Analyse des verfügbaren Angebots von Finanzprodukten beruhen und aufzeigen, ob und wie die Anlageziele des Kunden umgesetzt werden können (vgl. Report, p. 72).

Damit würden die IDD-Vertriebsvorschriften den bereits bestehenden Regularien im Wertpapierbereich stärker angenähert werden (MIFID II-Richtlinie), und im Kundengespräch würde der Unterschied zwischen einem Produktverkauf durch gebundene Vertreter und einer anbieter- und produktneutralen Beratung durch „unabhängige“ Vermittler verdeutlicht werden. Wie im Wertpapierbereich dürften „unabhängige“ Versicherungsvermittler keine Provisionen durch die Produktanbieter erhalten (vgl. Report, p. 66). Die Einführung des Konzeptes der „unabhängigen Beratung“ wäre eine bedeutende Veränderung im Versicherungsvertrieb, denn sowohl gebundene Vertreter wie ungebundene Makler haben sich hinsichtlich der Qualität ihrer Verkaufsgespräche immer darauf berufen, dass die Vergütung „nicht die Verpflichtung des Versiche­rungs­­vermittlers oder -unternehmens beeinträchtigt, im besten Interesse seiner Kunden ehrlich, redlich und professionell zu handeln“ (vgl. Artikel 17 (1) und 29 (2) (b) IDD). Im Rahmen der anstehenden Evaluierung und Novellierung der Vertriebsrichtlinie IDD wird diese EIOPA-Empfehlung sicherlich zu scharfen Diskussionen zwischen allen Interessensverbänden führen.

Informationspflichten

Ob Verkaufsgespräch oder wirklich unabhängige Beratung, in jedem Fall sollen auch die Informationspflichten seitens Produktanbieter und Vertriebe gestrafft werden. Der Bericht nennt hierzu zwei wesentliche Mittel: die Einführung von „most vital information“ in der vorvertraglichen Phase sowie eines obligatorischen „annual statement“ während der Vertragslaufzeit. Letzteres würde aus deutscher Sicht allerdings keine grundlegende Neuerung darstellen, denn seit langem sind „jährliche Standmitteilungen“ der Lebensversicherer nach § 155 VVG geregelt.

Nichtsdestotrotz gibt es im Detail einige Abweichungen im EIOPA-Vorschlag wie etwa die Angabe von Bestandsprovisionen sowie vergangene Wertentwicklungen. Bei Fondspolicen sollen darüber hinaus die Prämienhöhen angegebenen werden, um prognostizierte Wertentwicklungen für das Alter von 55, 65, 75 und 85 Jahren aufrechtzuerhalten, falls es abweichende Entwicklungen gibt (vgl. Report, no. 38, p. 32). Die im Bericht aufgeführten „vitalsten vorvertraglichen Informationen“ decken sich mit denen, die bereits im Basisinformationsblatt (BIB) enthalten sind (u.a. Risikoabdeckung, Vertragsdauer, Gewinnbeteiligungen, Kapitalmarkt-Risikofaktor, Gesamtkosten, Wertentwicklungsszenarien; vgl. Report, no. 65, p. 40). Der Unterschied zwischen den „vitalsten“ Informationen und den bisherigen „Schlüsselinformationen“ im BIB liegt darin, dass die Informationsdichte im BIB weiter gestrafft werden soll, um Redundanzen auszuschließen. Hierzu wären zusätzliche Konsumenten-Verhaltensuntersuchungen notwendig, um die weitergehende Novellierung der BIB umzusetzen.

Der Bericht kommt insgesamt zu dem Schluss, dass die Informationsdokumente „radikal einfacher“, d.h. „verständlich, aber wesentlich kürzer“ sein müssen. Das kann durchaus als eine Selbstkritik an den bisherigen Regulierungen, insbesondere bei den Basisinformationsblättern, verstanden werden, deren Verständlichkeit und z.B. Vergleichbarkeit von Produkten, häufig nicht erreicht worden ist. Deshalb sollen neue Informations­anforderungen bestehende ersetzen und keine zusätzlichen Dokumente zur Folge haben (vgl. Report, p. 51).

Außerdem soll die Digitalisierung der Informationsdokumente „Standardformat“ werden, nur auf Nachfrage von Kundenseite sollen Papierdokumente ausgehändigt werden. Die Digitalisierung bietet zwei entscheidende zusätzliche Vorteile: zum einen das so genannte „layering of information“, d.h. die „Schichtung“ der Tiefe von Informationen, die über verschiedene Ebenen auf der Website der Produktanbieter angeboten werden können (etwa zu Fragen der Kostenaufschlüsselung, der impliziten Annahmen von Wertentwicklungsszenarien oder zu Nachhaltigkeits­präferenzen). Zum anderen könnten gerade die BIB mit „interaktiven Elementen“ verknüpft werden (wie Infografiken, Erklärvideos oder Bildern), um sie von einer statischen in eine „flexible Struktur“ zu überführen und dadurch attraktiver zu machen (vgl. Report, p. 51).

Schließlich wird betont, dass reine “marketing communication” weiterhin erlaubt sein soll, aber strikt getrennt werden muss von den gesetzlich obligatorischen Informationsdokumenten, was aber schon jetzt geltendes Recht ist. Allerdings sollen die Rechte der nationalen Aufsichtsbehörden zur schnelleren Intervention bei „mis-leading marketing practices“ gestärkt und auf EIOPA ausgeweitet werden (vgl. Report, p. 52).

Fazit

Insgesamt kommen wir zu dem Schluss, dass dieser Bericht viele bedenkenswerte Vorschläge zu Produktentwicklung, Vertrieb und Informationspflichten der Lebensversicherer enthält. Dadurch ist zwar kein radikaler Umbruch zu erwarten, aber die Europäische Versicherungsaufsicht macht deutlich, dass sie gegebene Fehlentwicklungen im Marktgeschehen aufmerksam verfolgt, wie sie etwa bei den regelmäßigen „Consumer Protection Days“ offen angesprochen werden. Und logischerweise ergeben sich hieraus praktische Handlungsempfehlungen für novellierte Regulierungen und die laufende Aufsichtspraxis.


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