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Versicherungen verstehen

Herrn Kaisers neue Kleider

Herrn Kaisers neue Kleider

 25.06.2018  Versicherungen verstehen  0 Kommentare  Julia Alice Böhne

Früher war alles besser - zumindest in der Werbewelt der 80er Jahre. Versicherungsfälle lösten sich hier in Wohlgefallen auf: sei es der Streit mit dem missgünstigen Nachbarn, der Dank süßer Kirschen doch noch sein Herz für Allianzversicherte entdeckte oder der Unfall mit dem Gemüselaster im Italien-Urlaub, der mit Hilfe des blauen Versicherungsscheins sein Ende in einem gemeinsamen Umtrunk fand. 

© Dennis Gries / Pixabay

Bei allen Fragen rund um das Thema Versicherungen half Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer: ein adretter Mann mittleren Alters, der stets in Anzug gekleidet und mit Aktenkoffer in der Hand beschwingt durch deutsche Städte spazierte und von seiner Kundschaft allerorten mit einem überschwänglichen „Hallo, Herr Kaiser!“ begrüßt wurde.

Die Realität sah vermutlich anders aus. „Herr Kaiser“ war allerdings tatsächlich der wichtigste Vertriebskanal für Versicherungen. Genauso selbstverständlich wie die Avon-Beraterin und der Heinzelmann-, äh, Vorwerk-Verkäufer stand der Versicherungsaußendienst vor deutschen Türen. Wie sollten die Policen auch sonst an die Kundschaft gebracht werden?

Abschluss ohne Beratung

Seitdem hat sich die Versicherungsbranche gewandelt und mit ihr auch der Vertrieb. Durch Regulierung und Digitalisierung hat sich die Zahl der Versicherungsvermittler*innen allein in den vergangenen Jahren deutlich reduziert. Noch ist der personengebundene Vertrieb an der Spitze der Vertriebskanäle. In nahezu allen Versicherungssparten hat aber die Bedeutung von Internet- und Direktvertrieb in den letzten Jahren zugenommen. Wer eine Versicherung abschließen möchte, kann dies nicht nur bei einer Versicherungsagentur, einem Maklerbüro oder einer Bank tun, sondern kann sich ebenso online absichern. Dort bieten neben den Versicherern selbst auch Vergleichsportale Abschlussmöglichkeiten an. Dass es bei den meisten Versicherungen nicht sinnvoll ist, einen Vertrag ohne vorherige professionelle, unabhängige und individuelle Beratung zu unterzeichnen, stört die (Online-)Kundschaft zum Abschlusszeitpunkt nicht. Das böse Erwachen kommt häufig erst im Versicherungsfall.

Policen vom Discounter

Geradezu harmlos wirken diese beratungsfreien Vertriebswege jedoch im Vergleich zu anderen Kanälen, die sich in den vergangenen Jahren im Versicherungsvertrieb versucht haben. So hatte beispielsweise der Handelskonzern Rewe im Herbst 2007 in seinen Penny-Filialen eine Box für 49 Euro angeboten, in der der sich Versicherungsunterlagen zu einem Versicherungspaket bestehend aus Unfallschutz, Opfer-Rechtschutz und Schutzbrief befanden. Entschlossen sich die Kund*innen nach dem Öffnen des Pakets dazu, die Versicherung abzuschließen, mussten sie sich per Post, Fax oder online bei der Arag registrieren und erhielten dann ihren Versicherungsschein zugeschickt. In diesem Fall wurde der für die Box entrichtete Kaufpreis mit den Versicherungsprämien für das erste Jahr verrechnet. Das Landgericht Wiesbaden untersagte es dem Konzern mit Urteil vom 14. Mai 2008 (Aktenzeichen 11 O 8/08), „zu Zwecken des Wettbewerbs Endverbrauchern (…) den Abschluss von Versicherungsverträgen anzubieten und/oder mit einem derartigen Angebot zu werben“. Sein Urteil begründete das Gericht damit, dass der Konzern als Versicherungsvermittler aufgetreten sei, ohne über eine entsprechende Erlaubnis zu verfügen. Auch der Versicherer Signal Iduna plante kurzfristig, seine Policen beim Discounter Aldi anzubieten. Der Einzelhandelskonzern Tchibo bot über seine Homepage bis Januar 2011 neben klassischen Versicherungen auch Finanzprodukte per Mausklick an, ohne dass hierfür eine gesetzliche Genehmigung vorlag.

Versicherungen to Go

Herr Kaiser (wohlgemerkt die Zweitbesetzung) verschwand 2009 von den Bildschirmen der Republik, als der Versicherungskonzern Ergo die Marke Hamburg-Mannheimer einstellte. Dennoch muss die Branche nicht um neue Kund*innen bangen. Denn durch die Digitalisierung bieten sich den Versicherern immer neue Vertriebswege. Ein Ziel der Assekuranz ist es, in der Hosentasche der Kund*innen immer am Point-of-Sale zu sein. Hier kommen die Apps der Insurtechs ins Spiel, die es Verbraucher*innen ermöglichen sollen, den digitalen Versicherungsordner auf dem Smartphone bei sich zu tragen. Je nach Situation wird ihnen dann eine „Optimierung“ oder auch Erweiterung des Versicherungsbestands per Push-Nachricht angeboten. So ist beispielsweise vorstellbar, dass die App eine Reiseversicherung vorschlägt, wenn das Smartphone-GPS meldet, dass es sich in Grenznähe oder an einem Flughafen befindet. Ob die Apps als Bewertungskriterien bei ihren Empfehlungen den Leistungsumfang, den Preis oder doch eigene Verträge mit den jeweiligen Versicherern berücksichtigen, ist nicht bekannt. Einen weiteren Verkaufspunkt hat die TU-Europa-Gruppe, eine polnische Tochter des Talanx-Konzerns, für sich entdeckt. Nach ihrem Willen sollen Kund*innen an insgesamt 7.800 Automaten der zwei großen Geldautomaten-Betreiber Planet Cash und Euronet in Polen Versicherungsschutz erwerben können. Das teilte der Mutterkonzern im Januar 2018 mit. Inhaltlich handelt es sich demnach um Reise- und Sportversicherungen. Um eine Police abzuschließen, sollen direkt über das Menü des Geldautomaten grundlegende Daten eingegeben werden. Anschließend wird die Versicherungspolice laut Talanx auf das Smartphone des Kunden geschickt. Und auch in die deutschen Wohnzimmer wollen es die Versicherer wieder schaffen. Herr Kaiser wird hier heutzutage durch den Amazon-Sprachassistent Alexa ersetzt. Viele Versicherer – darunter Allianz, Axa, Zurich und die Deutsche Familienversicherung– haben bereits sogenannte Skills entwickelt, die wie eine App für Smartphone oder Tablet funktionieren. Durch sie kann Alexa über die Policen des jeweiligen Anbieters informieren. Ein Versicherungsabschluss via Alexa ist zwar noch nicht möglich, die Entwicklung jedoch absehbar. Bequem sind Abschlüsse via Alexa, Internet oder Geldautomat sicherlich, doch ob die Police dann auch dem individuellen Bedarf entspricht, ist mindestens zweifelhaft.

Übrigens ist das auch die Gemeinsamkeit von Herrn Kaiser im adretten Anzug und diesen neuen Kleidern des Vertriebs: Weder bei Vermittler*innen noch bei Vergleichsportalen, Apps oder gar Geldautomaten sollten Verbraucher*innen arglos von einer Neutralität oder Unabhängigkeit ausgehen. Sie alle erhalten ihre Vergütung direkt oder indirekt vom Versicherer. Ziel ist es daher meist nicht, eine individuell passende Produktlösung zu verkaufen, sondern ein Produkt mit möglichst hoher Vergütung.


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