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Der Bundesgerichtshof (BGH) hat ein verbraucherunfreundliches Urteil (Az. IV ZR 81/18) zu Lasten der im Notlagentarif Versicherten gefällt. Diese Entscheidung hat sehr einschneidende Bedeutung und gravierende Folgen für die Betroffenen. Der BGH bestätigt damit u. a. die Rechtsauffassung des Thüringer Oberlandesgerichts und des Landgerichts Gera und steht im eindeutigen Gegensatz zur verbraucherfreundlichen Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm. Über alle diese Entscheidungen wurde hier schon berichtet.
Leitsatz des BGH-Urteils: „Im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung ist der Versicherer nicht gehindert, mit rückständigen Beiträgen gegen Kostenerstattungsansprüche des Versicherungsnehmers aufzurechnen.“ Das bedeutet, eine solche Aufrechnung durch Krankenversicherungsunternehmen ist zulässig.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Privatversicherter hatte so hohe Prämienrückstände, dass das Versicherungsunternehmen den Vertrag ruhend gestellt hatte und auf den Notlagentarif umstellte. Die vom Versicherten eingereichten ärztlichen Rechnungen erstattete die Versicherungsgesellschaft nicht und nahm somit keine Zahlung an ihn vor. Vielmehr übersandte das Versicherungsunternehmen dem Versicherten eine Abrechnung, aus der sich eine Aufrechnung mit Prämienrückständen ergab (siehe auch die Blogbeiträge „Gericht führt PKV-Notlagentarif ad absurdum",„Harter Schlag für Privatversicherte im Notlagentarif" und „Lichtblick für Privatversicherte im Notlagentarif“).
Der Wortlaut der gesetzlichen Regelungen (§ 193 Abs. 6 - 9 VVG) enthält keine gesetzliche Anordnung eines Aufrechnungsverbotes für das Krankenversicherungsunternehmen.
Zudem ergibt sich aus der Umstufung des Vertrages in den Notlagentarif nicht, dass die bisherigen Prämienforderungen nicht weiterbestehen. Das folgt im Umkehrschluss aus der Regelung in § 193 Abs. 9 Satz 1 VVG. Hiernach wird der Vertrag „in dem Tarif fortgesetzt, in dem der Versicherungsnehmer vor Eintritt des Ruhens versichert war“, sobald „alle rückständigen Prämienanteile einschließlich der Säumniszuschläge und der Beitreibungskosten gezahlt“ sind.
Ferner ist aus der Systematik der Regelung über den Notlagentarif nichts anderes zu folgern. Denn aus den Regelungen in § 394 Satz 2 BGB (Keine Aufrechnung gegen unpfändbare Forderung) und § 35 VVG (Aufrechnung durch Versicherer) ist kein Aufrechnungsverbot für Versicherungsunternehmen gegenüber Leistungsansprüchen der Versicherungsnehmer*innen im Notlagentarif zu entnehmen.
Des Weiteren lässt auch die Entstehungsgeschichte keinen anderen Schluss zu. Denn aus den Gesetzesmaterialien zum Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung ist nicht zu ersehen, dass der Gesetzgeber den Krankenversicherungsunternehmen die Aufrechnung mit Prämienansprüchen gegenüber Leistungsansprüchen der Versicherungsnehmer*innen verbieten wollte.
Auch aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes folgt nach Auffassung des BGH nicht, einem Krankenversicherungsunternehmen die Aufrechnung mit Prämienforderungen gegenüber Leistungsansprüchen der Versicherungsnehmer*innen aus dem Notlagentarif zu untersagen. Das Ziel, die Prämienschuldner*innen vor weiterer Überschuldung zu schützen, wird durch das Herabsetzen der Beitragspflicht erfüllt. Denn deren Sinn und Zweck ist es auch, ihnen den Ausgleich rückständiger Prämien aus dem Zeitraum vor Umstellung des Vertrages in den Notlagentarif zu ermöglichen. Zugleich wird das Ziel einer Notfallversorgung erreicht, ohne dass ein Aufrechnungsverbot erforderlich ist. Denn ist es Versicherungsnehmer*innen wegen ihrer finanziellen Möglichkeiten nicht möglich, die Forderungen der Leistungserbringer*innen auszugleichen, tritt bei finanzieller Hilfebedürftigkeit im Sinne des Sozialrechts (§ 193 Abs. 6 Satz 5 VVG) das Ruhen des Vertrages nicht ein oder es endet. Bezahlen Versicherungsnehmer*innen trotz fehlender Hilfebedürftigkeit nicht die Forderungen medizinischer Leistungserbringer*innen, weil Versicherungsunternehmen ihre Leistungspflicht durch Aufrechnung mit ihnen zustehenden Prämienforderungen erfüllen, fällt das in ihren Risikobereich.
Schließlich führt der BGH aus: Wäre es die Intention des Gesetzgebers gewesen, den Krankenversicherungsunternehmen das Recht nehmen zu wollen, mit ihrem „Anspruch auf rückständige Prämienleistungen gegenüber Leistungsansprüchen der Versicherungsnehmer*innen aus dem Notlagentarif aufzurechnen, hätte er dies ausdrücklich normieren müssen, was er aber nicht getan hat.“
Nach Auffassung des BdV steht die Entscheidung des BGH eindeutig im Gegensatz zum Sinn und Zweck des Notlagentarifs und der Intention des Gesetzgebers. Denn der Notlagentarif soll den Versicherungsnehmer*innen trotz ihrer bestehenden Beitragsrückstände mindestens einen Grundversicherungsschutz im Krankheitsfall bieten. Dieser Schutz kann durch diese höchstrichterliche Entscheidung vollkommen ausgehöhlt werden, da ein Krankenversicherungsunternehmen die Leistungsansprüche mit den Beitragsrückständen der Versicherungsnehmer*innen aufrechnen darf. Dadurch kann ein Versicherungsunternehmen finanziell bedürftigen Versicherten die Möglichkeit nehmen, weitere ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, auch wenn diese medizinisch geboten und erforderlich sind. Bedürftige müss(t)en solche Behandlungen dann aus eigener Tasche zahlen, was ihnen in der Regel aber nicht möglich sein wird. Die ausführliche Argumentationslinie des BdV, die für ein Aufrechnungsverbot streitet, finden Sie im Blogbeitrag vom 07.04.2016 .
Natürlich müssen die Krankenversicherungsunternehmen nicht von der Aufrechnungsmöglichkeit Gebrauch machen, können dies aber, weil es zulässig ist. Jedoch besteht für die Notlagentarif-Versicherten die große Unsicherheit, ob eine solche Aufrechnung vorgenommen wird und die Gewissheit, dass ein rechtliches Vorgehen hiergegen erfolglos bleiben würde.
Daher appelliert der BdV an den PKV-Verband, seine bisherige Linie zugunsten der Verbraucher*innen beizubehalten und sich weiterhin für ein Aufrechnungsverbot bei seinen Mitgliedsunternehmen einzusetzen.
Außerdem ruft der BdV die PKV-Unternehmen auf, sich an diese Leitlinie zu halten und eben nicht von dieser abzurücken, wie z. B. das klagende Krankenversicherungsunternehmen in dem vom Thüringer Oberlandesgericht entschiedenen Fall.
Den Gesetzgeber fordert der BdV nachdrücklich auf, zeitnah eine gesetzliche Regelung im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) zu verankern, die ein Aufrechnungsverbot für diese Fälle normiert, damit das BGH-Urteil nicht in der Praxis dazu führt, dass der PKV-Notlagentarif ad absurdum geführt wird.