Wir geben Einblicke in die Versicherungswelt - von A wie Altersvorsorge bis Z wie Zinszusatzreserve.
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Die deutsche Versicherungswirtschaft steht vor einer massiven Krise. Die Zukunft der gesamten Branche steht in Frage – zumindest in der Personenversicherung. Kompositversicherer können sich vermutlich noch eine Zeitlang in Sicherheit wähnen, Lebensversicherer und die Unternehmen der Privaten Krankenversicherung (PKV) müssen sich aber desaströsen Zukunftsaussichten stellen.
Wovon ich rede? Es geht nicht um den Niedrigzins. Der bereitet auch Kopfzerbrechen. Aber der Gesetzgeber springt den Versicherern ja immer zur Seite, wenn es darum geht, für die Fehlkalkulationen der letzten Jahrzehnte die Kundinnen und Kunden zu schröpfen. In der Lebensversicherung werden die Kundinnen und Kunden um Milliarden an Überschüssen enteignet, in der Privaten Krankenversicherung steigen regelmäßig die Prämien - ebenfalls um die Fehlkalkulationen auszugleichen. Und wenn man in der Lebensversicherung gar nicht mehr weiterweiß, dann werden die Bestände eben in den Run-Off geschickt oder ganz und gar an Investoren verkauft. „Was kümmern mich die Versprechen der Vergangenheit?“, meint man die beteiligten Versicherungsbosse zuweilen murmeln zu hören.
Das wirklich große Problem ist aber nicht finanzieller Natur, sondern demographischer. Es ist schon perfide, wenn genau diejenigen, die von sich behaupten, die Demographie am besten mathematisch beherrschen zu können, nun gerade von dieser Demographie überrollt werden.
Die Demographie verschlingt Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker, die Aktuare. Die einen gehen in Rente und es gibt zu wenige, die nachkommen. Es wurde versäumt, dafür zu sorgen, dass es genügend junge Menschen gibt, die sich der Versicherungsmathematik widmen wollen. Es wurde gesamtgesellschaftlich unterlassen, den Beruf der Aktuarin und des Aktuars genügend attraktiv zu machen, so dass junge Menschen diesen Berufszweig bevölkern wollen.
Was wie ein Luxusproblem klingt, kann aber sehr schnell die Versicherungswirtschaft im Kern erschüttern.
Bei den Lebensversicherern geht so langsam die Generation der 94er in den Ruhestand. Ich meine diejenigen, die damals, 1994, die Deregulierung maßgeblich begleitet haben. Die sind eben bald weg. Dann fehlen die letzten, die sich noch mit der Zeit vor 1994 gut auskennen. Aber aus dieser Zeit rühren noch Millionen von Verträgen her. Und oft werden diese Tarife noch auf veralteten IT-Systemen geführt. Wo sollen aber zukünftig die Mathematikerinnen und Mathematiker herkommen, die sich mit diesen veralteten Verträgen und der veralteten Technik auseinandersetzen können und wollen?
Und was in der Zeit nach 2000 an neuen Tarifen von den Versicherern aufgelegt wurde, auch das muss zukünftig aktuariell begleitet werden. Und das sind sehr, sehr viele. Für all diese Tarife müssen jedes Jahr aufs Neue die Überschüsse deklariert werden. Da müssen Dynamikerhöhungen berechnet werden, und bei einigen Rententarifen, Riester- und Rürup-Renten müssen zusätzlich noch Nachreservierungen errechnet werden.
Wahrscheinlich kommen die Lebensversicherer noch ein paar Jahre mit dem jetzigen Stand an Aktuarinnen und Aktuaren irgendwie über die Runden. Aber was passiert dann, wenn die „94er“ vollends in Rente gegangen sind?
Besonders katastrophal kann es aber schon bald für die Private Krankenversicherung werden. Zum einen gibt es dort noch weniger aktuarielle Expertinnen und Experten als für den spannenderen Bereich der Lebensversicherung. Zum anderen bedarf es neben der normalen aktuariellen Arbeit auch noch weiterer Aktuarinnen und Aktuare: es bedarf der sogenannten „unabhängigen Treuhänder“.
Diese „unabhängigen Treuhänder“ haben eine zentrale Funktion in der PKV. Sie sind nämlich diejenigen, die bestätigen müssen, dass eine Beitragsanpassung in Ordnung sei. Damit deren Votum gültig ist, müssen sie eben „unabhängig“ sein. Das gilt aber vermutlich nicht, wenn die Nähe und die Abhängigkeit zu den Versicherungsunternehmen zu groß ist.
Kann eine Person, die ehemals Versicherungsvorstand war, als genügend unabhängig angesehen werden, wenn sie die Tarife ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen prüft? Ist eine Treuhänderin bzw. ein Treuhänder wirklich unabhängig, wenn das eigene Geschäftsmodell zu einem Großteil darauf beruht, eben diese Treuhänderei zu machen, die Person also davon betriebswirtschaftlich abhängig ist?
Solche Fragen werden am 19. Dezember vor dem Bundesgerichtshof verhandelt. Womöglich könnten die Richterinnen und Richter dann feststellen, dass das bisherige System der Treuhänderinnen und Treuhänder so nicht in Ordnung ist. Dann müssen andere Treuhänderinnen und Treuhänder her. Aber woher sollen die kommen?
Für die Privaten Krankenversicherer kann es noch vor Weihnachten um die Existenz gehen. Wenn sich dann nämlich herausstellt, dass es zu wenige unabhängige Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker gibt, die den Job als Treuhänderin oder Treuhänder ausüben können und wollen – und das eben unabhängig von den PKV-Unternehmen.
Wo liegen die Versäumnisse? Die Versicherungswirtschaft hat es sich zu bequem gemacht und nicht dafür gesorgt, genügend Anreize für unabhängig arbeitende Aktuarinnen und Aktuare zu geben. Und die Rolle der Aktuare in den Unternehmen sind von vornherein zu eng an die jeweiligen Unternehmen geknüpft.
Wie soll es weitergehen? In der Lebensversicherung müssen neue, junge und engagierte Versicherungsmathematikerinnen und Aktuare gefunden werden. Das kann gelingen. Aber für die Manager in der privaten Krankenversicherung bleibt aber eigentlich erst mal nur die Hoffnung, dass der BGH so entscheidet, als wäre alles gut gewesen. Ansonsten muss man das irgendwie mit den Treuhänderinnen und Treuhändern in den Griff bekommen. Ein konkreter Plan B scheint dafür aber nicht in Sicht.