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Kleinleins Klartext

Aktuarskrise

Aktuarskrise

 21.11.2018  Kleinleins Klartext  2 Kommentare  Axel Kleinlein

Die deutsche Versicherungswirtschaft steht vor einer massiven Krise. Die Zukunft der gesamten Branche steht in Frage – zumindest in der Personenversicherung. Kompositversicherer können sich vermutlich noch eine Zeitlang in Sicherheit wähnen, Lebensversicherer und die Unternehmen der Privaten Krankenversicherung (PKV) müssen sich aber desaströsen Zukunftsaussichten stellen.

Wovon ich rede? Es geht nicht um den Niedrigzins. Der bereitet auch Kopfzerbrechen. Aber der Gesetzgeber springt den Versicherern ja immer zur Seite, wenn es darum geht, für die Fehlkalkulationen der letzten Jahrzehnte die Kundinnen und Kunden zu schröpfen. In der Lebensversicherung werden die Kundinnen und Kunden um Milliarden an Überschüssen enteignet, in der Privaten Krankenversicherung steigen regelmäßig die Prämien - ebenfalls um die Fehlkalkulationen auszugleichen. Und wenn man in der Lebensversicherung gar nicht mehr weiterweiß, dann werden die Bestände eben in den Run-Off geschickt oder ganz und gar an Investoren verkauft. „Was kümmern mich die Versprechen der Vergangenheit?“, meint man die beteiligten Versicherungsbosse zuweilen murmeln zu hören.

Das demographische Problem

Das wirklich große Problem ist aber nicht finanzieller Natur, sondern demographischer. Es ist schon perfide, wenn genau diejenigen, die von sich behaupten, die Demographie am besten mathematisch beherrschen zu können, nun gerade von dieser Demographie überrollt werden.

Die Demographie verschlingt Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker, die Aktuare. Die einen gehen in Rente und es gibt zu wenige, die nachkommen. Es wurde versäumt, dafür zu sorgen, dass es genügend junge Menschen gibt, die sich der Versicherungsmathematik widmen wollen. Es wurde gesamtgesellschaftlich unterlassen, den Beruf der Aktuarin und des Aktuars genügend attraktiv zu machen, so dass junge Menschen diesen Berufszweig bevölkern wollen.

Was wie ein Luxusproblem klingt, kann aber sehr schnell die Versicherungswirtschaft im Kern erschüttern.

Die Generation der 94er

Bei den Lebensversicherern geht so langsam die Generation der 94er in den Ruhestand. Ich meine diejenigen, die damals, 1994, die Deregulierung maßgeblich begleitet haben. Die sind eben bald weg. Dann fehlen die letzten, die sich noch mit der Zeit vor 1994 gut auskennen. Aber aus dieser Zeit rühren noch Millionen von Verträgen her. Und oft werden diese Tarife noch auf veralteten IT-Systemen geführt. Wo sollen aber zukünftig die Mathematikerinnen und Mathematiker herkommen, die sich mit diesen veralteten Verträgen und der veralteten Technik auseinandersetzen können und wollen?

Und was in der Zeit nach 2000 an neuen Tarifen von den Versicherern aufgelegt wurde, auch das muss zukünftig aktuariell begleitet werden. Und das sind sehr, sehr viele. Für all diese Tarife müssen jedes Jahr aufs Neue die Überschüsse deklariert werden. Da müssen Dynamikerhöhungen berechnet werden, und bei einigen Rententarifen, Riester- und Rürup-Renten müssen zusätzlich noch Nachreservierungen errechnet werden.

Wahrscheinlich kommen die Lebensversicherer noch ein paar Jahre mit dem jetzigen Stand an Aktuarinnen und Aktuaren irgendwie über die Runden. Aber was passiert dann, wenn die „94er“ vollends in Rente gegangen sind?

Katastrophale Aussichten für die PKV

Besonders katastrophal kann es aber schon bald für die Private Krankenversicherung werden. Zum einen gibt es dort noch weniger aktuarielle Expertinnen und Experten als für den spannenderen Bereich der Lebensversicherung. Zum anderen bedarf es neben der normalen aktuariellen Arbeit auch noch weiterer Aktuarinnen und Aktuare: es bedarf der sogenannten „unabhängigen Treuhänder“.

Diese „unabhängigen Treuhänder“ haben eine zentrale Funktion in der PKV. Sie sind nämlich diejenigen, die bestätigen müssen, dass eine Beitragsanpassung in Ordnung sei. Damit deren Votum gültig ist, müssen sie eben „unabhängig“ sein. Das gilt aber vermutlich nicht, wenn die Nähe und die Abhängigkeit zu den Versicherungsunternehmen zu groß ist.

Kann eine Person, die ehemals Versicherungsvorstand war, als genügend unabhängig angesehen werden, wenn sie die Tarife ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen prüft? Ist eine Treuhänderin bzw. ein Treuhänder wirklich unabhängig, wenn das eigene Geschäftsmodell zu einem Großteil darauf beruht, eben diese Treuhänderei zu machen, die Person also davon betriebswirtschaftlich abhängig ist?

Solche Fragen werden am 19. Dezember vor dem Bundesgerichtshof verhandelt. Womöglich könnten die Richterinnen und Richter dann feststellen, dass das bisherige System der Treuhänderinnen und Treuhänder so nicht in Ordnung ist. Dann müssen andere Treuhänderinnen und Treuhänder her. Aber woher sollen die kommen?

Für die Privaten Krankenversicherer kann es noch vor Weihnachten um die Existenz gehen. Wenn sich dann nämlich herausstellt, dass es zu wenige unabhängige Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker gibt, die den Job als Treuhänderin oder Treuhänder ausüben können und wollen – und das eben unabhängig von den PKV-Unternehmen.

Wo liegen die Versäumnisse?

Wo liegen die Versäumnisse? Die Versicherungswirtschaft hat es sich zu bequem gemacht und nicht dafür gesorgt, genügend Anreize für unabhängig arbeitende Aktuarinnen und Aktuare zu geben. Und die Rolle der Aktuare in den Unternehmen sind von vornherein zu eng an die jeweiligen Unternehmen geknüpft.

Wie soll es weitergehen? In der Lebensversicherung müssen neue, junge und engagierte Versicherungsmathematikerinnen und Aktuare gefunden werden. Das kann gelingen. Aber für die Manager in der privaten Krankenversicherung bleibt aber eigentlich erst mal nur die Hoffnung, dass der BGH so entscheidet, als wäre alles gut gewesen. Ansonsten muss man das irgendwie mit den Treuhänderinnen und Treuhändern in den Griff bekommen. Ein konkreter Plan B scheint dafür aber nicht in Sicht.


Kommentare
Kommentar von Aktuar  am  22.11.2018 17:18
Hallo Herr Kleinlein,
ich bin so ein von den VU unabhängiger Aktuar, der die Branche seit Mitte der 80er Jahre kennt. In der Tat gibt es nicht viele von uns. Aber ich sehe da für die Branche nicht schwarz. Die Übergabe von technischem Know How bei Pensionierungen funktioniert i.d.R. gut. Was verloren geht, ist das Wissen um die Motivation von alten Regeln, die den jungen Kollegen manchmal seltsam vorkommen. Normalerweise ist so was auch kein Beinbruch. Man fragt sich, ob die Regel noch sinnvoll ist und ändert sie dann wenn dies nicht der Fall ist. Leider ist das in einer so überregulierten Branche wie der LV und PKV nicht immer einfach, da gelten auch noch die Regeln aus den 1980ern, obwohl die Welt sich seitdem fundmental geändert hat. Was das Treuhänderproblem angeht, da ist die Lösung einfach. Der Ex-Mitarbeiter der Gesellschaft A überprüft die Tarifanpassungen von Gesellschaft B und der Ex-Mitarbeiter von B die Tarife von C und der Ex von C die von A usw. Das geht mit der gleichen Menge an Aktuaren, muss nur etwas anders organisiert werden. Die Unabhängigkeit vom konkreten VU dürfte dann kein Problem sein. Ansonsten finde ich es sehr gut, dass Sie sich so für den Berufsstand der Mathematiker/Aktuare engagieren. Im Verhältnis zu den Juristen sind wir auch im Versicherungswesen immer noch zu wenige.
Kommentar von Lootwig  am  21.11.2018 19:51
Lieber Herr Kleinlein,

die Aktuare sterben aus. Und zwar in einem Umfang, der ein Fortleben der Lebens- und Krankenversicherung in Zukunft gefährdet. Mich würden hier Zahlen interessieren. Hier würde auch eine Quellenangabe helfen damit Ihre Ausführungen den Status einer bloßen Behauptung verlieren.

Gerne möchte ich Ihnen noch einen zusätzlichen kleinen Denkanstoß geben:

Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer. Wir brauchen Pflegerinnen und Pfleger. Die Gesellschaft hat vielleicht wichtigere Aufgaben zu bewältigen als den Berufszweig zu fördern, den Sie zufällig persönlich gewählt haben.

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