Wir geben Einblicke in die Versicherungswelt - von A wie Altersvorsorge bis Z wie Zinszusatzreserve.
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Als ich vor 23 Jahren bei der Allianz Lebensversicherung im Aktuariat angefangen habe, hatte ich keine Ahnung von Lebensversicherungen. Natürlich habe ich im Studium Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastik gelernt, aber was die Lebensversicherungsmathematik auszeichnet, das durfte ich erst in Stuttgart beim Branchenführer kennenlernen.
Unter Markus Faulhaber, der damals das Aktuariat leitete, gehörte ich zu einer Reihe von Novizen des Aktuarwesens und war schnell fasziniert davon, dass vermeintlich einfache Rechenregeln ein so kompliziertes Feld wie die Versicherungsmathematik begründen.
Eigentlich geht es ja nur um vergleichsweise einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung: Man trifft ein paar Annahmen zu den Rechnungsgrundlagen und kann dann alles errechnen. Welche Rechnungsgrundlagen sind das?
An erster Stelle stehen natürlich die Annahmen zur Sterblichkeit. Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand in einem bestimmten Zeitraum, etwa im nächsten Jahr, verstirbt? Diese Wahrscheinlichkeiten sind in den sogenannten Sterbetafeln niedergelegt. Wie ich damals in der Schwabenmetropole begonnen habe, die ersten derartigen Berechnungen anzustellen, da lagen diese Sterbetafeln natürlich schon in Computerprogrammen bereit. Wir haben mit einem uralten Programm namens APL gerechnet. Aber ein paar der älteren Kolleginnen und Kollegen hatten noch als Reminiszenzen dicke Folianten im Büro, richtige Sterbetafeln zum Anfassen.
In diesen dicken Büchern fanden sich dann nicht nur die rohen Sterbewahrscheinlichkeiten. Vielmehr fanden sich hier auch schon weitergehende errechnete Werte, Barwerte und andere Hilfsgrößen. Solche Barwerte braucht man, um den Gegenwert zukünftiger Absicherungen zu berechnen. Etwa um zu wissen, wie teuer es heute ist, über die nächsten Jahre immer eine bestimmte Todesfallleistung gewährleisten zu können, wenn die versicherten Personen immer genau entsprechend der Tafeln versterben.
Für die Berechnung solcher Barwerte kommt dann neben diesen Sterbewahrscheinlichkeiten eine weitere Rechnungsgrundlage hinzu: der Zins. Denn wenn es einen positiven Zins gibt, dann ist eine Zahlung von 1.000 Euro in 10 Jahren heute eben deutlich weniger wert. Und bei einem Rechnungszins von 4 Prozent genügen heute bereits knapp 676 Euro, um über die nächsten 10 Jahre mit Zins und Zinseszins genau auf die 1.000 Euro zu kommen! Und genau das gilt es eben als Versicherungsmathematiker mit einzuberechnen.
Damals haben wir mit einem Rechnungszins von vier Prozent gerechnet. Das war auch der damalige Höchstrechnungszins, also genau der Wert, den die Aufsichtsbehörde gerade noch erlaubt hat. Wir hätten auch mit drei oder zwei Prozent kalkulieren dürfen, aber keinesfalls höher als eben diese vier Prozent.
Versicherungsmathematikerinnen und -mathematiker lieben es, über die Sterbewahrscheinlichkeiten zu diskutieren, zu forschen und zu argumentieren. Mit Leidenschaft und Herzblut setzten sich die Aktuarinnen und Aktuare etwa dafür ein, zu argumentieren, dass für Männer und Frauen unterschiedlich gerechnet werden müsse, da ja die Sterbewahrscheinlichkeiten der Geschlechter deutliche Unterschiede aufweisen. In der Diskussion um den Unisex haben wir aber dann doch verloren. Zu Lasten der Versicherten, zu Lasten der Kundschaft und zum Wohl der Versicherungsunternehmen – aber das ist ein anderes Thema.
Das Thema, das mich hier beschäftigt, ist aber die andere wichtige Rechnungsgrundlage: der Zins, der Rechnungszins, der Garantiezins.
Ich habe nie erlebt, dass die Diskussion um den Rechnungszins mit ähnlicher Inbrunst geführt wurde. Und wenn, dann ging es in den 90ern nur darum, wie man einen noch höheren Zins argumentieren könnte, damit die rechnerischen Ablaufleistungen möglichst hoch ausfallen. Ob ein solcher Rechnungszins sinnhaft ist, ob er dauerhaft erzielt werden kann, das war nicht im Fokus.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich meinen damaligen Referatsleiter gefragt habe, ob das mit den vier Prozent eigentlich dauerhaft zu halten wäre. Hintergrund waren Berichte in der Fachliteratur über japanische Lebensversicherer, die gerade pleitegingen. In den 90ern war ja in Japan längst eine lange Zeit äußerst niedriger Zinsen, die die Lebensversicherer stark unter Druck gesetzt haben.
Warum also kalkulierten wir damals Tarife, die über einige Jahrzehnte laufen sollten, mit einem Rechnungszins von vier Prozent? Wie hat die Aktuarswelt das damals begründet? Die Antwort, die ich bekommen habe, war recht simpel: Das würde schon klappen, die Zinsen der letzten Jahre waren ja sogar deutlich höher!
Ein verhängnisvoller Kardinalfehler war diese Blauäugigkeit. Und diesen Fehler hat die Branche dann auch noch zu einem verhängnisvollen Zeitpunkt begangen.
Denn dann ging es ja los, dass gerade die Lebensversicherungswirtschaft sich bei der Politik anbiederte und andiente, um die zu erwartenden Probleme der Altersvorsorge zu lösen. Wir erinnern uns: Unter anderem Professor Rürup hat in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ erarbeitet, dass unser System der Altersvorsorge einer Überarbeitung bedürfe. Beruhte doch Altersvorsorge bislang außerordentlich stark auf der umlagefinanzierten Rente. Diese sollte nun durch kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzt werden.
Ich war mittlerweile bei der Stiftung Warentest als die Riester-Rente diskutiert und dann eingeführt wurde. Ich war immer skeptisch, dass Walter Riester, Professor Rürup und andere für diese zusätzliche Altersvorsorge so stark auf die Versicherungswirtschaft setzten. Gingen doch mittlerweile die Überschussbeteiligungen deutlich in die Knie. Und auch der Höchstrechnungszins sank sukzessive immer weiter.
Der Absturz ging voran. In Studien zur Überschussbeteiligung, die ich dann bei Assekurata mitbegleitete, zeichnete sich zunehmend ab, dass die Versicherer bei Weitem nicht mehr das halten können, was sie ursprünglich den Versicherten als Ablaufleistung in Aussicht gestellt haben. Als dann die Finanzkrise in 2008 kam, konnte ich – damals mit meinem eigenen Aktuarsbüro – erfolgreich davor warnen, dass auch in Deutschland mit Variable Annuities weitere verheerende Experimente in Sachen Altersvorsorge zu Lasten der Versicherten initiiert würden.
Bald darauf ging es los, dass die ersten Verträge keine Überschüsse mehr bekamen. Denn die Versicherer hatten Probleme, genügend Zinsen alleine für die Garantien zu erwirtschaften. Das Geschäftsmodell der deutschen Lebensversicherer zeigte, dass es nicht nachhaltig ist, dass es auf einem blinden Glauben an einen nicht begründbaren Zins beruht.
Anstatt, dass die Versicherer nun begonnen hätten, die Schwächen ihres Geschäftsmodells zuzugeben, griffen sie erst mal in die Taschen der Versicherten. Die laufende Überschussbeteiligung war ja sowieso schon massiv gekürzt und gestrichen. Jetzt ging es auch an die Bewertungsreserven, auf die die Versicherten eigentlich Anspruch haben. Das hatte ja der Bund der Versicherten vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten.
Aber mit tatkräftiger Schützenhilfe der Politik missbrauchen die Versicherer Gelder, die nach dem Gesetz den Versicherten für Überschussleistungen zustehen: die schon genannten Bewertungsreserven, die Schlussüberschüsse, die kollektive RfB, (Rückstellung für Beitragsrückerstattung) die freie RfB und die Zinszusatzreserve.
Heute sind es grob geschätzte 100 Milliarden Euro, die über diesen Weg den Versicherten als Zusatzleistungen vorenthalten werden, um das Debakel der Fehlkalkulation beim Rechnungszins auszugleichen.
Die letzten Untersuchungen von uns, dem Bund der Versicherten, zeigen, dass auch das eigentlich nicht mehr ausreicht. Erste Versicherer haben eigentlich nicht mehr genügend Solvenz, um ihren Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Etwa ein Viertel der deutschen Lebensversicherer genügen den europäischen Solvenzanforderungen nur, weil sie sogenannte Übergangsmaßnahmen in Anspruch nehmen oder sie haben negative Gewinnerwartungen.
Ich befürchte Schlimmes, wenn die Zahlen für 2020 veröffentlicht werden und wenn wir uns im Sommer die dann aktuelle Solvenzsituation anschauen werden. Eine Entwarnung ist nicht zu erwarten. Die aktuelle Zinslandschaft wird sich vermutlich nicht entspannen.
Seit einigen Jahren gibt es nun den Versuch, mit vermeintlich neuartigen Tarifen eine Lösung zu finden. Was steckt dahinter?
Da gibt es sogenannte Indexpolicen. Da wird so getan, als würden Gelder der Versicherten risikofrei in bestimmte andere Kapitalanlagen investiert. Versicherungsmathematisch handelt es sich aber nur um die althergebrachten Tarife mit ein bisschen anderen Regeln zur Überschussbeteiligung. Höchst intransparent und undurchschaubar, nicht nachvollziehbar sind diese Tarife – eher schlecht für die Versicherten und bringen auch den Unternehmern keine echte Entlastung im Zinsdebakel.
Mit einem anderen neuartigen Tarif versuchte die Branche eine neue „Perspektive“ zu entwickeln. Da war die Rede davon, man würde nun ohne Garantiezins kalkulieren, was aber nicht stimmt. Stattdessen wird eben mit einem Garantiezins kalkuliert, der sukzessive sinkt. Wir erinnern uns: Der Höchstrechnungszins darf nicht überschritten, aber in der Kalkulation sehr wohl unterschritten werden. Und genau das ist der Weg, den die Versicherer bei einigen dieser neuen Produkte eingeschlagen haben.
Klar ist, dass wenn der Versicherer nur noch mit einem Mini-Zins kalkuliert, dann muss er auch weniger Zins erwirtschaften. So gesehen hat sich die Branche die Hoffnung auf eine Entlastung an der Zinsfront erarbeitet. Wie wir heute wissen, ist der Effekt aber sehr gering und führt nicht zu einer Rettung.
Ein kleiner Nebeneffekt bei diesen Tarifen: Um eine bestimmte garantierte Absicherung zu erreichen, müssen die Versicherten immer mehr Geld investieren je niedriger der Zins ist, mit dem der Versicherer kalkuliert. Und weil sich die Abschlusskosten und Provisionen für die Vermittler an dem orientieren, was die Kundinnen und Kunden einzahlen und nicht an dem, was sie garantiert herausbekommen, steigen die Kosten immer stärker an. Gemessen an den garantierten Leistungen haben sich die Abschlusskosten in den letzten 30 Jahren so in etwa verdreifacht.
Und jetzt geht die Branche noch einen Schritt weiter. Sie will zum Teil nun nur noch 90, 80 oder 60 Prozent der eingezahlten Summe garantieren! Also, wenn eine Kundin bzw. ein Kunde im Vertragsverlauf 10.000 Euro einzahlt, dann hat er zum Ablaufzeitpunkt oder Rentenbeginn nur einen garantierten Anspruch auf 9.000, 8.000 oder 6.000 Euro. Unterm Kopfkissen wären es immerhin noch 10.000 Euro.
Als Versicherungsmathematiker habe ich für einen exemplarischen Vertrag ausgerechnet, was für ein Rechnungszins hinter einem solchen Vertrag steckt. Da landet man tief im Minus. Wer sich aufregt, dass es Banken gibt, die mittlerweile einen Strafzins von 0,5 Prozent erheben, der sollte dann bei diesen neuen Versicherungsangeboten auf die Barrikaden gehen: Diese neuen Angebote entsprechen dann einem Strafzins von mehr als zwei Prozent!
Ich höre jetzt schon die Versicherer schimpfen, dass ich die Überschussbeteiligung verschweigen würde. Denn diese käme ja noch hinzu. Dann frage ich aber: Warum sollte denn irgendjemand darauf vertrauen, dass solche Überschüsse tatsächlich fließen? Ja, es gibt Überschussmittel, die in den verschiedenen Töpfen angesammelt sind, in den Bewertungsreserven, in der Zinszusatzreserve, in der freien RfB, in der kollektiven RfB und im Schlussüberschussanteilfonds. Dieses Geld wird aber eben nicht dazu verwendet Überschussleistungen zu finanzieren. Diese Gelder müssen Kalkulationsfehler der Versicherer ausgleichen.
Bei Aktiengesellschaften ist es noch schlimmer: Da werden diese Überschussgelder den Kundinnen und Kunden vorenthalten, damit die Aktionäre nicht so viel Eigenkapital stellen müssen. Die Kundschaft muss auf Überschussleistungen verzichten, damit die Aktionärsrenditen in die Höhe gehen.
Substantielle Überschüsse wird es nur geben, wenn die Versicherer und deren Aktionäre irgendwann altruistisch werden und auf eigene Rendite zu Gunsten der Versicherten verzichten. Das ist aber erfahrungsgemäß ziemlich unwahrscheinlich. Überschussbeteiligung als eine Art von Rendite für das Investment in ein Lebensversicherungsprodukt ist also hoch riskant. Das Investment in ein Lebensversicherungsprodukt ist über diesen Weg höchst volatil, hochgradig intransparent und damit für die Altersvorsorge gänzlich ungeeignet.
Nur Steuergeschenke wie die Riester-Zulage oder Steuervorteile für bestimmte Sparerinnen und Sparer können in Ausnahmefällen einen Vertrag bei einem Lebensversicherer retten. Aber dann sind es eben alle, die Steuern zahlen, die das Finanzieren. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir Altersvorsorge ohne Versicherungen denken.
Für eine moderne, neue und funktionierende private kapitalgedeckte Altersvorsorge müssen wir dafür noch eine weitere Hürde nehmen: Der Verrentungszwang muss fallen.
Was ich unter Verrentungszwang verstehe? Es gibt diese Vorstellung, dass Altersvorsorge nur dann vernünftig wäre, wenn am Schluss eine lebenslange Rente herauskommt. Begründet wird dies offiziell mit der diffusen Idee, dass Menschen, die fürs Alter angespart haben, im Alter selbst nicht mehr mit Geld umgehen könnten. Es gibt die bösartige Unterstellung, dass Menschen ab einem bestimmten Alter unfähig sind, selbständig und vernünftig über das Geld zu entscheiden. Die würden das Geld einfach verprassen und fallen dann der Allgemeinheit zur Last.
Deshalb müsse man diese Menschen entmündigen und ihnen vorschreiben, dass sie das selbst freiwillig Ersparte nur als Rente ausgezahlt bekommen. Und weil jenseits der gesetzlichen und betrieblichen Rente nur Lebensversicherer solche Renten anbieten dürfen, ist dann ganz selbstverständlich immer ein Lebensversicherungsunternehmen mit dabei und kassiert mit ab.
Dieser Verrentungszwang ist nichts anderes als eine massive Privilegierung der Versicherungswirtschaft. Dieser Verrentungszwang entmündigt ältere Menschen, damit die Lebensversicherer Geschäft machen können.
Es ist falsch, diejenigen, die ihr Arbeitsleben lang gezeigt haben, dass sie vernünftig mit Geld umgehen, kaum dass sie älter werden, finanziell zu entmündigen. Was wir brauchen, ist kein Verrentungszwang, sondern Freiheit, dass diejenigen, die selbstverantwortlich angespart haben auch selbstverantwortlich über das angesparte Verfügen dürfen.
Altersvorsorge ist im Ansparen so individuell wie jeder und jede Einzelne. Genauso individuell muss auch der Verzehr des Geldes erlaubt sein. Man muss auch im Alter vom Angesparten leben dürfen, ohne dass dafür eine Lebensversicherung die Finger im Spiel hat und abkassiert.
Wir haben dafür beim Bund der Versicherten die Idee der Basisdepot-Vorsorge entwickelt. Die Grundidee: Jede Sparform kann zur Altersvorsorge genutzt werden und wird begünstigt, Hauptsache der Verzehr erfolgt erst im Alter. Meinetwegen kann dann sogar ein Produkt einer Lebensversicherung dabei sein. Das ist dann aber eine freiwillige Entscheidung und nicht erzwungen.
(Anmerkung: Dies ist der Vortrag den ich am 02. März auf dem MCC-Kongress „22. Zukunftsmarkt AltersVorsorge“ gehalten habe. Selbstverständlich bekam ich dort dann auch etwas Gegenwind. Professor Rürup behagte es zum Beispiel nicht, dass ich den Verrentungszwang kritisierte.)