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Versicherungen verstehen

Wenn die Berufsunfähigkeitsversicherung die Leistung einstellt - oder: Die Bedeutung von 'konkreter Verweisung' und 'Lebensstellung'

Wenn die Berufsunfähigkeitsversicherung die Leistung einstellt - oder: Die Bedeutung von 'konkreter Verweisung' und 'Lebensstellung'

 15.02.2022  Versicherungen verstehen  2 Kommentare  Constantin Papaspyratos

Wer einen Versicherungsvertrag zur Absicherung der Arbeitskraft mit bedarfsgerechter versicherter Leistung abgeschlossen und bei der Antragstellung alle Risikofragen wahrheitsgemäß und vollständig beantwortet hat, hat zunächst alles richtiggemacht.

Bei jedem Versicherungsvertrag stellen sich aber vor allem zwei entscheidende Fragen: 1) Wann leistet die Versicherung, 2) wann leistet sie nicht (mehr)?

Dies gilt auch für die Berufsunfähigkeitsversicherung (BUV) und beides kann gleichermaßen kompliziert sein.

© Gerd Altmann /Pixabay

„BU sein“ muss nicht bedeuten, „in seinem Beruf nicht mehr arbeiten zu können“

Um sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, was „berufsunfähig“ (BU) bedeutet, hilft zunächst ein Blick ins Gesetz. Der Gesetzgeber hat vorgeschrieben, was BU bedeutet und was eine BUV entsprechend mindestens leisten muss (wer es genau wissen möchte: §§ 172-177 Versicherungsvertragsgesetz – VVG). Das heißt, dieses „gesetzliche Leitbild“ ist für Versicherungsunternehmen, die in Deutschland Berufsunfähigkeitsversicherungen anbieten, verpflichtend.

Eine beispielhafte Definition für „Berufsunfähigkeit“ in Versicherungsbedingungen (die vom gesetzlichen Leitbild nicht negativ abweichen dürfen) ist:

„Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls [...], die ärztlich nachzuweisen sind,

[1] voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen
[2] ihre zuletzt ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgeübten beruflichen Tätigkeiten
[3] nicht mehr zu mindestens 50 %

ausüben kann.

Diese Zahlenwerte (sechs Monate und 50 %) sind aktuell marktüblich – es kann aber auch Verträge geben, die davon abweichen (z. B. drei Jahre und 75 %). Erweiterungen bei der BU-Definition kann es auch bei BUV-Verträgen geben, die für Menschen angeboten werden, die nicht berufstätig sind (z. B. für Schülerinnen und Schüler – siehe hierzu weiter unten in diesem Beitrag).

Wann und warum kommt es zur „Nachprüfung“ der Berufsunfähigkeit?

Entscheidend ist dabei insbesondere, dass sich diese Beeinträchtigungen – hinsichtlich Punkt 2 – auf den in gesunden Tagen (!) zuletzt ausgeübten Beruf beziehen. Das muss nicht bedeuten (wie es zum Teil auch noch auf Webseiten von Versicherern oder „Verbraucherportalen“ zu lesen ist), „in seinem Beruf nicht mehr arbeiten zu können“. Ausreichend ist bereits ein „Restleistungsvermögen“ – wie hier bis zur Höhe der marktüblichen 50 Prozent (!) – im zuletzt ausgeübten Beruf (!!) in gesunden Tagen (!!!), um als BU zu gelten und die Leistung aus dem Versicherungsvertrag zu erhalten.

Da jeder BUV-Vertrag vorsieht, dass die BU-Rente nur solange zu leisten ist, wie die BU andauert, wird der Versicherer früher oder später bei dem Berufsunfähigen eine Nachprüfung durchführen. Neben einer medizinischen Begutachtung prüft der Versicherer unter anderem auch, ob der Versicherte konkret verwiesen werden kann.

Wann ist man „nicht mehr BU“? Und: Was bedeutet „konkrete Verweisung“?

Es sind viele Situationen denkbar, in denen man nicht mehr als BU gilt. Ein weitgehend plausibler Fall ist: Der Versicherte ist wieder soweit genesen, dass er seinen zuletzt ausgeübten Beruf wie in gesunden Tagen wieder (beispielhaft) zu mindestens 50 Prozent ausüben kann. Wenn der Versicherer dies bei der Nachprüfung über die medizinische Begutachtung darlegen kann, gilt der Versicherte nicht mehr als BU und die Leistung wird eingestellt. (Das heißt nicht, dass der Vertrag endet – bei erneuter BU leistet die Versicherung weiter bzw. erneut.)

Komplizierter ist es unter Umständen wenn

  1. die Beeinträchtigung (mindestens 50-prozentige BU im zuletzt ausgeübten Beruf wie in gesunden Tagen) fortbesteht,

aber

2. der Versicherte wieder eine Tätigkeit ausübt (z. B. eine „neue“ Tätigkeit, die er nach einer Umschulung nach BU-Eintritt aufgenommen hat).

Es kann viele gute Gründe geben, während einer noch andauernden Berufsunfähigkeit wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (z. B. um die Einkommenssituation zu verbessern). Dabei ist aber der Fall denkbar und möglich, dass der Versicherte dann nicht mehr als BU gilt und entsprechend keinen Anspruch mehr auf die BU-Leistung hat.

Beispielhafte Versicherungsbedingungen formulieren es so:

„Wir verweisen nicht auf eine andere Tätigkeit, es sei denn, die Versicherte Person übt

[1] eine berufliche Tätigkeit konkret aus, die
[2] mit der bisherigen beruflichen Tätigkeit vergleichbar ist. Dies ist der Fall, wenn
[3] diese Tätigkeit […] im Hinblick auf die […] Lebensstellung der bisherigen beruflichen Tätigkeit entspricht.“

Für Versicherte bedeutet das: Der Versicherer kann prüfen, ob der Versicherte – während er die BU-Leistung bezieht – eine Tätigkeit konkret ausübt. Wenn das der Fall ist und der Versicherer darlegen kann, dass diese ausgeübte Tätigkeit im Hinblick auf die Lebensstellung der bisherigen beruflichen Tätigkeit entspricht, kann er den Versicherten auf diese Tätigkeit konkret verweisen.

Der Versicherte gilt dann nicht (mehr) als BU und die Leistung wird eingestellt.

Was bedeutet „Lebensstellung“ bei Erwerbstätigen?

Grob vereinfacht: Bei der Nachprüfung ist hinsichtlich der Lebensstellung entscheidend, in welchem Umfang die „neue“ Tätigkeit dem (in gesunden Tagen) zuletzt ausgeübtem Beruf hinsichtlich

  • Einkommen und
  • „sozialer Wertschätzung“

entspricht.

Ein einfacher Fall ist: Die Vergleichsprüfung ergibt, dass der Versicherte mit dieser „neu“ ausgeübten Tätigkeit hinsichtlich des Einkommens so weit schlechter gestellt ist, das dies als unzumutbar gilt.

Diese Tätigkeit entspricht dann nicht der vorherigen Lebensstellung und der Versicherte gilt nach wie vor als BU. Der Versicherer kann dann nicht konkret verweisen und muss weiterhin die vereinbarte BU-Rente leisten.

In vielen aktuellen Versicherungsbedingungen findet sich die Klausel, dass „ein Bruttoeinkommen von weniger als 80 Prozent“ (im Vergleich zu dem in gesunden Tagen zuletzt ausgeübtem Beruf) als unzumutbar gilt. Diese Klausel ist durchaus hilfreich zur Klarstellung – wenn auch nicht zwingend notwendig, da sie ein Ergebnis aus der Zusammenschau der Rechtsprechungsentwicklung in der Vergangenheit darstellt.

Wird diese Einkommensgrenze aber erreicht oder überschritten, kommt es auch noch darauf an, ob die neue Tätigkeit hinsichtlich der „sozialen Wertschätzung“ der vorherigen Lebensstellung entspricht.

Denkbare und mögliche Ergebnisse der Nachprüfung sind:

  1. Der Versicherte gilt nach wie vor als berufsunfähig, weil die neue Tätigkeit hinsichtlich der „sozialen Wertschätzung“ nicht der vorherigen Lebensstellung entspricht. Der Versicherer muss die Rentenzahlung weiterführen (solange dieser Zustand andauert und der Versicherungsvertrag läuft).

  2. Der Versicherte gilt nicht mehr als berufsunfähig, weil er eine Tätigkeit ausübt, die hinsichtlich der „sozialen Wertschätzung“ der vorherigen Lebensstellung entspricht. Der Versicherer stellt dann die Leistung ein.

Im Zusammenwirken mit der Lebensstellung kommt es im Einzelfall auch noch auf weitere Faktoren an, wie z. B. erworbene Qualifikationen, Fähigkeiten und Kenntnisse. Dies bleibt an dieser Stelle außen vor, da es – wie gesagt – um eine grob vereinfachte Darstellung geht.

Ein Beispiel aus der Rechtsprechung

Die Gerichte neigen regelmäßig dazu, bei selbstständig und freiberuflich Tätigen grundsätzlich eine größere soziale Wertschätzung anzunehmen als bei abhängig Beschäftigten – auch dann, wenn mit der abhängigen Beschäftigung ein höheres Einkommen erzielt wird als zuvor mit der selbstständigen/freiberuflichen Tätigkeit.

In einem exemplarischen Fall durfte der Versicherer den Versicherten nicht konkret verweisen und entsprechend die BU-Leistung nicht einstellen: Es handelte sich um einen vormals selbstständigen Gas- und Wasserinstallateur-Meister, der nach einer Umschulung als angestellter medizinisch-technischer Laborassistent (MTLA) tätig gewesen ist (mit einem höheren Einkommen als vorher). Das zuständige Gericht begründete die Entscheidung damit, „[…] Der selbstständige Gas- und Wasserinstallateur-Meister genieße ein höheres Ansehen als ein angestellter MTA. Im Übrigen komme es nicht darauf an, ob der Versicherungsnehmer durch eine neue Tätigkeit mehr Freizeit und ein höheres Einkommen sowie eine soziale Absicherung habe. Die Verweisbarkeit richte sich nach der Vergleichbarkeit der Lebensstellung […].“ (OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.12.2012 – Az. 12 U 93/12).

Die konkrete Verweisung kann bei Erwerbstätigen also sehr kompliziert sein, weil die Prüfung und Bewertung der Lebensstellung immer vom individuellen Einzelfall abhängt.

Was bedeutet „Lebensstellung“ bei Nicht-Erwerbstätigen (wie z. B. Schülern)?

Es gibt natürlich auch Lebenssituationen, in denen Menschen (noch) keine relevante Lebensstellung erreicht haben (hinsichtlich Einkommen und sozialer Wertschätzung), wie z. B. Schülerinnen und Schüler. Auch für sie werden BUV-Verträge angeboten.

Beispielhafte Versicherungsbedingungen formulieren es so:

„Bei Schülern liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person durch Krankheit, Körperverletzung […] außerstande ist, als Schüler am Unterricht an einer allgemeinen Schule in der Sekundarstufe I oder Sekundarstufe II ohne spezielle Förderung teilzunehmen und auch keine andere, ihrer Ausbildung und Erfahrung sowie bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit konkret ausübt.“

Der Versicherungsschutz ist während der Schulzeit eingeschränkt

Allgemein und – auch hier: Grob vereinfacht – bedeutet das: Schülerinnen und Schüler können grundsätzlich auf jede Tätigkeit konkret verwiesen werden, die den Anforderungen der BUV an einen „Beruf“ entspricht: vor allem hinsichtlich Regelmäßigkeit, Einkommenserzielung, und dass es sich weder um eine geringfügige Beschäftigung noch um eine Erwerbstätigkeit außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes handelt (z. B. in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung). Gerichtsurteile zur konkreten Verweisung in der BUV bei Schülerinnen und Schülern sind mir aktuell nicht bekannt, da es sich bei „BUV-Verträgen für Schüler“ um noch recht „junge“ Angebote handelt.

Auch bei der BUV für Schülerinnen und Schüler gilt: Die versicherten Leistungen sind in der Gesamtschau individuell zu prüfen und zu bewerten

Dass der Versicherungsschutz für Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der konkreten Verweisbarkeit – im Vergleich zu Erwerbstätigen – sehr eingeschränkt ist, ändert aber nichts an der generellen Sinnhaftigkeit der Absicherung der Arbeitskraft und des frühen Abschlusses eines Vertrages (vor allem, wenn sich bei der versicherte Person Vorerkrankungen noch in Grenzen halten). Schülerinnen und Schüler sollten insbesondere beachten: Die BUV hat den Zweck, den Lebensstandard im Falle des dauerhaften Verlusts der Arbeitskraft zu sichern. Die Schulzeit ist im Verhältnis zum (im Normalfall mehrere Jahrzehnte umfassenden) Erwerbsleben eine eher kurze Phase. Deshalb sollten bei einem bedarfsgerechten Versicherungsschutz die versicherten Leistungen im Vordergrund stehen, die für die gesamte zukünftige Entwicklung des Erwerbslebens relevant sind. Und auch hier wieder: unter Berücksichtigung des konkret-individuellen Einzelfalls.

Fazit: Der Einzelfall ist entscheidend – eine Individualberatung ist unerlässlich

Jede Tätigkeit ist individuell zu bewerten. Ebenso die Faktoren, die für eine konkrete Verweisung im Einzelfall entscheidend sind. Deshalb gilt für Berufsunfähige, die mit einer Nachprüfung konfrontiert werden, das Gleiche wie für Versicherte, die eine BU-Leistung beantragen möchten: Sie sollten sich frühzeitig – also bevor es zu einem Rechtsstreit kommt – rechtlich beraten lassen: durch spezialisierte Versicherungsberater oder Rechtsanwältinnen und -anwälte.

Da es hier um Versicherungsleistungen in beträchtlicher Höhe geht, sollte man die damit verbundenen Kosten der Rechtsberatung in Kauf nehmen.


Kommentare
Kommentar von Constantin  am  15.02.2022 13:07
Schönes Fallbeispiel von Philip Wenzel (Leseempfehlung!)
Kommentar von Philip Wenzel  am  15.02.2022 09:45
Wir hatten kürzlich erst einen Leistungsfall, in dem technisch eine konkrete Verweisung möglich gewesen wäre, aber die AVB einen kleinen Fehler hatten ;-)

https://bu-expertenservice.de/2022/02/01/konkrete-verweisung/

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